Narzissmus und Goldmund
Vor ein paar Wochen sprachen viele noch davon, dass eine neue Flüchtlingswelle im Anrollen ist. Die Nachrichten waren voll mit Bildern davon. An den Grenzen zu Europa und in jenen Ländern der EU, die sich an den Außengrenzen befinden, sind die Flüchtlingslager schon lange überfüllt.
Doch leise hörte man bereits damals von etwas Neuem, das nicht vor den künstlich errichteten Grenzen Europas Halt macht. Noch weit entfernt. Aus dem Osten. Sich dagegen abschotten: Fehlanzeige. Bilder aus Endzeitfilmen tauchten immer häufiger in den Medien auf und Angst und Panik machten sich langsam breit.
Diese “Bedrohung” kam immer näher und ist inzwischen hier angekommen und mitten unter uns. Es gibt noch kein Mittel dagegen. Keinen Impfstoff. Verzweiflung breitet sich aus.
Die Alten und Schwachen sind am meisten davon betroffen. Die Abwehrkräfte sind nicht mehr so stark. So werden wir jetzt alle mit unseren Grenzen konfrontiert. Mit unserer Sterblichkeit und der von Anderen. Der Tod geht um und ist nun für alle sichtbar. Doch er war in Wirklichkeit gar nie fort. Wir hatten ihn nur scheinbar ausgesperrt und grenzten uns von ihm ab, verdrängten ihn aus unserem Denken. Doch „Social Distancing“ funktioniert hier nicht.
Ostern. Das Fest der Auferstehung. Leiden. Sterben.Auferstehung. Jesus. Doch wer ist dieser Jesus? Heute kann man die „Erreger“ fast jeder Erkrankung im Mikroskop betrachten. Sie sehen stark vergrößert meist sehr bunt, ja harmlos aus. Sie erinnern mich an schillernde Luftblasen mit Fühlern dran und könnten Skulpturen von Franz West, einem österreichischen Künstler, sein. Sieht so etwas Todbringendes aus? Etwas, wovor man sich fürchten muss?
Viele denken und werfen mit Zahlen um sich, und die Industrie und Forschung versucht verzweifelt, ein “Gegenmittel” zu finden. Eines, das einen vor dieser „neuen“ Krankheit schützt und heilt.
Viele Fragen sich: Wer hat recht? Welchem Arzt, Forscher, Politiker darf man Glauben schenken und vertrauen? Welche Regierung macht jetzt alles richtig und sind Frauen die besseren Krisenmanager? Die besseren Politiker? Wer befreit uns alle von dieser Angst und Panik? Sind die Pharmakonzere die neuen Erlöser. Ist es diejenige/derjenige, die/der als Erster das Gegenmittel findet und wovon werden wir damit dann wirklich geheilt? Wann entdeckt jemand das Mittel gegen unsere Endlichkeit?
Ich erlebe Menschen die wegsehen und die Straßenseite wechseln, wenn ihnen jemand zu nahekommt. Abgrenzung, Verdrängung oder jetzt „social distancing“ läuft schon viel länger als uns bewusst ist. Privat, beruflich, wirtschaftlich. Wo ist hier und jetzt der Unterschied?
Manche sprechen davon, wie gelähmt sie sind und schotten sich ab. Soziale Abgrenzung darf man jetzt sehr breit auslegen. Man will ja niemanden schädigen. Ich bin in selbstauferlegter Quarantäne höre ich Freunde über Videotelefonie mit heldenhaftem Unterton sagen. Ich bin im „Homeoffice“, untergetaucht in meinen eigenen, sicheren vier Wänden, jedoch über Videotelefonie-App für dich und für die ganze Welt verfügbar. Ein neues „Biedermeier“? „Second Life“ und Lust auf die eigene „Big Brother“ Show mit jederzeit austauschbarem Avatar. Wie war das mit meinem Abgrenzen wirklich gemeint?
Privat. Ja da spende ich schon. Aber wem nützen die paar Euros schon, höre ich Viele, vermutlich aus Frust, sagen. Unternehmer*innen benötigen zigtausende Euros, damit sie diese Krise überleben und so weiter machen können wie zuvor, höre ich Verantwortliche aus der Wirtschaft sagen. Jetzt frage ich mich, wie man eine solche Grenze persönlich hinbekommt? Eine Spaltung in privatem Mitfühlen und beruflichem knallharten Kalkulieren? Zur Rettung der „alten“ Welt.
Ich sehe die kalte Fratze des Kapitalismus bereits wieder aufblitzen. Er scharrt bereits wieder mit seinen Hufen. Er ist bereits wieder ganz nah. Nah wie diese kleinen bunten Dinger, die uns jetzt bedrohen. Doch der Kapitalismus, das sind wir doch alle. Schon viel zu lange beuten wir andere aus. Im eigenen Land und über die Grenzen hinaus. Die Gier nach immer mehr und mehr führt uns dazu, weiterzumachen. Ellenbogentechnik statt Solidarität. Denken versus Fühlen.
Doch das ist ja nur die eine Seite des Talers und die Übergänge jener Münze sind fließend. Viel Solidarität und Mitgefühl schwappt einem entgegen. Spendenaktionen, Crowdfunding und andere innovative Ideen zur Rettung der analogen Welt.
Viele Freunde sind Künstler und/oder betreiben kleine Unternehmen und kämpfen um Ihre Existenz. Doch auf Grund meiner beruflichen Erfahrung als Sozialarbeiter weiß ich, dass wir in einem der sichersten und reichsten Länder der Welt leben. Es gibt noch ein funktionierendes soziales Netz, das alle auffängt. Jede und jeden die/der das möchte. Wir sind privilegiert und leben in der Krise wie König*innen. Die Regale in den Supermärkten sind voll und fast alle können sich ihren Einkauf leisten.
Um welche Existenz geht es im Moment wirklich und was stirbt, wenn mein Betrieb den Bach runter geht. Sterben meine Mitarbeiter*innen, oder stirbt nur mein altes „Ego“, welches ich auf den wackligen Beinen des Kapitalismus aufgebaut hatte. Auf Grund der aktuellen wirtschaftlichen Depression stirbt niemand und die großen Unternehmen profitieren im Moment sogar und machen so viel Gewinn, wie nie zuvor. Schlussendlich geht es im Kapitalismus, im von uns gewählten Wirtschaftssystem, genau darum. Es geht um das Streben nach dem Gewinn. Somit läuft ja doch alles richtig, möchte man meinen.
Das Wasser vor mir im Fluss ist ganz still. Es scheint mir wie ein Spiegel in den ich blicke. An dieser Stelle steht alles scheinbar still. Ich frage mich: Kann und will ich wirklich für immer schön, jung und gesund bleiben?
(Text und Bild: Wolfgang Safer)
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Harald (Sunday, 12 April 2020 19:15)
Bin gespannt
Eberhard (Monday, 13 April 2020 12:42)
Danke für diesen Beitrag, der die tieferen Dimensionen der Krise beleuchtet. Du wirfst sehr wichtige Fragen auf! Die Corona-Krise ist auch eine Zeit der Entscheidungen: Solidarität oder höchstmöglichen Schutz, Bedrohungen benennen oder beruhigen, klares Positionieren oder weitestgehendes Akzeptieren. Und die meisten Entscheidungen erweisen sich oft als komplizierter, als es zunächst den Anschein hatte, und lassen sich dann manchmal doch gar nicht so einfach beantworten. Und doch glaube ich, dass wir in dieser Krise die Möglichkeit haben, uns auf das Wichtige im Leben zu besinnen, und zu zeigen, wie wir gemeinsam mit unserer Mitwelt leben wollen. Jetzt ist die Zeit, das Freundliche in uns zu fördern und Zuwendung, Verlässlichkeit und ein friedvolles Miteinander zu stärken. Dein Beitrag fragt uns: "Wonach wollen wir streben"? Die Antwort finden wir in unseren Herzen.